Dietrich Lohff: `Requiem für einen polnischen Jungen'

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Totengebet - Georg Kafka

Georg Kafka: *15.2.1921, Teplitz-Schönau. Wurde im Sommer 1942 in das KZ Theresienstadt eingeliefert. Folgte am 15.5.1944 seiner Mutter freiwillig nach Auschwitz. Er starb Ende 1944 im Lager Schwarzheide. Er war ein weitläufiger Verwandter von Franz Kafka.

Sieh, Herr, die Toten kommen zu Dir.
Die wir geliebt, sind allein
und sehr weit.
Nun müssen wir ihre Münder sein
und beten zu Dir,
Du Ewigkeit.

Nimm ihr müdes Herz in die gütige Hand.
Da wird es still.
Eine Schwalbe, die ihre Heimat fand
und schlafen will.

Auf ihre Augen, die müde vom Licht
lege Dein Kleid,
daß sie träumen von Deinem Angesicht,
Du Dunkelheit.
Und ihre Hände, die immer bereit,
Dein Werk zu tun,
o Gott, Du ewige Erntezeit,
laß sie ruh'n.

Wir aber leben und dürfen nicht
die Tage versäumen.
Wir tragen geduldig das schwere Gewicht
zu Deinen Träumen.

O Herr, die Lebenden kommen zu Dir.
Die wir geliebt, sind allein.
Wir finden sie nicht.
Du aber wirst die Erleuchtung sein.
Du Licht.


Schlaflied für Daniel - Siegfried Einstein

Siegfried Einstein: *30.11.1919, Laupheim (Württ.) Bereits in der Schule als Jude verpönt. Emigrierte 1934 in die Schweiz. Dort war er von 1940--45 in Arbeitslagern. Kehrte 1953 nach Deutschland zurück. Zunächst lebte er in Lampertheim, wo er erneut antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt war. Er siedelte nach Mannheim um und starb dort 1987.

Wir fahren durch Deutschland, mein Kind.
Und es ist Nacht.
Die Scheiben klirren im Wind,
da sind die Toten erwacht

die Toten von Auschwitz, mein Sohn.
Du weißt es nicht
und träumst von Sternen und Mohn
und Sonn- und Mondgesicht.

Du darfst nicht schlafen, mein Kind.
Und es ist Nacht.
Die Toten stöhnen im Wind:
viel Menschen sind umgebracht.

Du darfst nicht schlafen, mein Sohn,
und träumen von seliger Pracht.
Sieh doch, es leuchtet der Mohn
wie Blut so rot in der Nacht.
Wir fahren durch Deutschland, mein Kind.
Und es ist Nacht.
Die Toten klagen im Wind ---
und niemand ist aufgewacht...


Sonett von der endgültigen Frage - Jesse Thoor

Jesse Thoor (Peter Karl Höfler): *23.1.1905, Berlin. Sohn österreichischer Eltern. War literarischer Autodidakt. Ging 1933 von Berlin nach Wien, 1938 nach Prag. 1939 Flucht nach London, dort wurde er einige Zeit interniert. 1950 kehrte er zurück nach Österreich und starb am 15.8.1952 in Lienz.

Ihr sagt, daß unermeßlich reich und voller Schönheit diese Erde ist.
Es wogt und drängt bis hin zum Horizont des Kornes Last.
Und wo beglückt der Sonne heller Strahlenkranz zerfließt,
neigt sich von süßer Frucht behangen jeder Ast.

Ich aber will euch sagen, was ich mit eigenen Augen sah.
(Wohl wahr, in segensreicher Fülle breitet sich das weite Land.)
Oh, einen Menschen sah ich nur, als ich an einem Morgen stand,
dort, wo die Stadt beginnt und oft schon ähnliches geschah.

Vom Winde bewegt, so hing er hoch, ganz hoch in einer Linde.
Ein Auge zu, indessen noch das andre starr den Himmel sucht.
Und aufgerissen war der Mund, als brüllte er: Verflucht!

Der Hals jedoch war fest verschnürt in einer grauen Binde.
Und blutig hing das rohe Fleisch aus den zerfetzten Schuh'n.
Was sagt ihr - meine Menschenkinder - he, was sagt ihr nun?


Ich möchte leben - Selma Meerbaum-Eisinger

Selma Meerbaum-Eisinger: *1924, Czernowitz. Verwandt mit Paul Celan. Sie starb am 16.12.1942 im deutschen Arbeitslager Michailowka. Sie war 18 Jahre alt, wurde irgendwo verscharrt. Ihr Freund Leijser Fichmann starb bei dem Versuch, Palästina zu erreichen.

Ich möchte leben.
Ich möchte kämpfen, lieben und hassen
und ich möchte den Himmel mit Händen fassen
und möchte frei sein und atmen und schrein.
Ich will nicht sterben.
Nein.

Das Leben ist rot.
Das Leben ist mein.
Mein und dein.
Warum brüllen die Kanonen?
Warum stirbt das Leben
für glitzernde Kronen?
Dort ist der Mond.
Er ist da.
Nah.
Ganz nah.
Ich muß warten.
Worauf?
Hauf um Hauf
sterben sie.
Ich will leben
und du Bruder auch.
Atemhauch
geht von meinem und deinem Munde.
Der Mond ist lichtes Silber im Blau.
Die Pappeln sind grau.
Und Wind braust mich an.
Die Straße ist hell.
Dann...
Sie kommen dann
und würgen mich.
Mich und dich.
Das Leben ist rot
braust und lacht.
Über Nacht bin ich tot.

Ein Schatten von einem Baum
geistert über den Mond.
Man sieht ihn kaum.
Ein Baum,
ein Leben
kann Schatten werfen
Über den Mond.


Euch fehlt die Phantasie - Martin Gumpert

Martin Gumpert: *13.11.1897, Berlin. Sanitätssoldat im 1. Weltkrieg. Studierte Medizin in Berlin und Heidelberg. Vor 1933 Chefarzt und Schriftsteller. Emigrierte 1936 in die USA, wo er als Arzt tätig war. Starb am 18.4.1955 in New York. Er schrieb diesen Text bereits 1934.

Daß man euch durch die Straßen jagen wird,
daß man eure Schränke durchwühlen wird,
daß man euer Telephon überwachen wird,
daß man euch Titel und Namen nehmen wird.

Daß euch eure Freunde nicht mehr grüßen werden,
daß euch eure Frauen nicht mehr lieben werden,
daß euch eure Kinder nicht mehr achten werden,
daß eure Diener euch nicht mehr dienen werden.

Euch fehlt die Phantasie, was wahr wird zu ersinnen,
euch fehlt die Kraft, was wirklich wird zu glauben,
euch fehlt der Mut, was klar ist zu erkennen,
euch fehlt das Wort, um was ihr wißt zu sagen.

Daß man euch hinter Stacheldraht sperren wird,
daß man euch ins Gesicht spucken wird,
daß man eure Bücher verbrennen wird,
daß man euer Werk verleugnen wird.

Daß man euch aus dem Lande treiben wird,
während die Glocken läuten und Schafe weiden,
während Züge pünktlich abfahren,
während der Bäcker jeden morgen das Brot bringt.

Ohne daß eine Hand sich erhebt,
ohne daß sich ein Sturm zusammenzieht,
ohne daß eine Stimme aufschreit,
ohne daß eine Träne vergossen wird.

Daß ihr vergessen sein werdet als wäret ihr nie gewesen,
daß ihr gekommen sein werdet und davongegangen,
daß ihr verloren sein werdet und verschollen,
daß der Tag dämmern und dunkeln wird wie je.

Euch fehlt die Phantasie, um was ihr tut zu fürchten,
euch ist die Macht geraubt, euch zu erschrecken,
euch ist der Ton versagt, um aufzustöhnen,
euch ist das Glück versagt, vor Scham zu weinen.


Elegie auf einen polnischen Jungen - Krystof Kamil Baczinski

Krystof Kamil Baczinski: *22.1.1921. War aktiv beim Aufstand im Warschauer Ghetto, wurde am 4.8.1944 in der Warschauer Oper von einem deutschen Soldaten erschossen. Er veröffentlichte etwa 500 Gedichte und 20 Erzählungen.

Sie trennten dich, mein Sohn, von Träumen,
die wie Falter zittern.
Sie malten eine Landschaft dir aus Bränden
und Gewittern.
Sie strickten feuchte Augen die, mein Sohn,
die rot verbluten.
Und mit Gehängten säumten
sie den Fluß der grünen Fluten.

Sie prägten dir die Heimat ein, mein Sohn,
mit toten Schritten.
Das Messer deiner Tränen hat sich die Wege
ausgeschnitten.
Sie zogen dich im Dunkel groß mit Angst,
die alle aßen.
Und du gingst blind die bitterste
der Menschenstraßen.

Du gingst mein heller Sohn, die schwarze
Waffe in den Händen.
Erlebtest jeden Stundenschlag, mit dem
die Übel enden.
Und eine Hand bekreuzte noch die Welt,
bevor sie sank.
War es die Kugel, war's das Herz, mein Sohn,
was da zersprang?


Heimkehr - Franz Theodor Csokor

Franz Theodor Csokor: *6.9.1885, Wien. Im 1. Weltkrieg Soldat. Dann freier Schriftsteller, Dramaturg und Regisseur. Protestierte auf dem PEN-Kongreß gegen die Verfolgung deutscher Kollegen. Floh 1938 über Polen, Rumänien, Jugoslawien nach Italien und kehrte 1946 nach Wien zurück. Diverse Preise. ``Heimkehr'' wurde auf der Flucht verfaßt.

Unsere Mütter sind gestorben,
unsere Frauen sind alt.
Unsere Häuser sind verdorben,
überall war Gewalt.

Wo sollen wir sitzen,
wo sollen wir speisen,
was ist unser Vaterland?
Ein Boden aus Blut und Eisen
und ein Himmel voll Brand.

Wenn wir unsern Kindern begegnen,
sie werden uns nicht mehr verstehn.
Wir werden sie schweigend segnen
und weitergehn.


Ein jüdisch' Kind - (unbekannter Verfasser)

Ich habe keinen Namen
ich bin ein jüdisch' Kind.
Weiß nicht woher wir kamen
und wo wir morgen sind.

Ich spreche viele Sprachen,
verlern' sie wiederum.
Für das, was wir ertragen
ist jede Sprache stumm.